DAS ALTÖTTINGER PAPIER
Das Altöttinger Papier legt die Grundlagen und Zielvorgaben für die Arbeit im Sozialpädiatrischen Zentrum fest und wurde am 08.03.2002 in der Grundfassung auf der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialpädiatrischen Zentren in Hannover für die Deutschen SPZ´s verbindlich beschlossen. In Kraft trat das Altöttinger Papier durch den Beschluss des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin am 21.06.2002.
Ursprung der Entstehung des Altöttinger Papiers war die jährliche Routinesitzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialpädiatrischer Zentren 1997 in Würzburg. Auf dieser Sitzung wurde in heftigen Diskussionen die sozialpädiatrische Arbeit durch die dort vertretenen SPZ-Leiter sehr unterschiedlich definiert. Das Gremium kam zu dem Beschluss, dass die Arbeit in den Sozialpädiatrischen Zentren grundsätzlich definiert werden müsse. Auf der Sitzung wurde der Altöttinger Arbeitskreis gegründet, der von 1997 – 2001 fünfmal in Altötting in der Herrenmühle tagte (26. – 28.11.1997, 01. – 04.12.1998, 07. – 10.12.1999, 05. – 08.12.2000, 04. – 07.12.2001).
Die Präambel definiert die Tätigkeit Sozialpädiatrischer Zentren: „Die Sozialpädiatrischen Zentren sind nach § 119 SGB V eine institutionelle Sonderform interdisziplinärer ambulanter Krankenbehandlung. Sie sind zuständig für die Untersuchung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen im Kontext mit dem sozialen Umfeld, einschließlich der Beratung und Anleitung von Bezugspersonen.“
Zum Behandlungsspektrum gehören insbesondere chronische Krankheiten, Entwicklungsstörungen, drohende und manifeste Behinderungen sowie Verhaltens- und seelische Störungen jeglicher Ursache. Im Altöttinger Papier wurde erstmals der Einsatz der „Mehrdimensionalen Bereichsdiagnostik der Sozialpädiatrie (MBS)“ definiert. In der Folge wurde das Altöttinger Papier durch von außen herangetragene Entwicklungen des Gesundheitssystems mehrfach in leichter Form modifiziert. Eine grundsätzlich neue Definition und Anpassung an die Entwicklungen auch auf internationaler Ebene stand nach einer erneuten Sitzung im Dezember 2013 in Altötting (Abb. 6.4) im September 2014 bei der Sitzung der Bundesarbeitsgemeinschaft in Leipzig zur Abstimmung.
Wesentliche Neuerung des Altöttinger Papiers 2014 war die Einführung der internationalen Klassifikation der Fertigkeiten (ICF) in Ergänzung zu dem bisherigen Untersuchungsschema. Darüber hinaus wurden bei der Neufassung Änderungen eingebaut, die sich durch die neuen Ausbildungs- und universitären Studienwege ergeben haben, unter anderem zählt dazu die Berücksichtigung der Bachelor- und Masterstudiengänge sowie die Einführung des Psychotherapeuten nach dem Psychotherapeutengesetz.
Die mehrdimensionale Bereichsdiagnostik der Sozialpädiatrie (MBS)
Wird ein Patient im Sozialpädiatrischen Zentrum vorgestellt, so sind in der Regel umfassende Untersuchungsabläufe erforderlich, um die Komplexität des Krankheitsbildes zu definieren und daraus die therapeutischen Rückschlüsse zu ziehen. Die dazu eingesetzte mehrdimensionale Bereichsdiagnostik (MBS) ist in folgenden Schritten aufgebaut:
Die biographische Anamnese
Sie entspricht einer umfassenden Anamnese des Patienten, aber auch der Familie und der Umgebungsbedingungen und der Erfassung des bisherigen Krankheitsverlaufes.
Die Untersuchung
Die Untersuchung besteht aus zwei wesentlichen Komponenten. Zunächst werden nach dem Diagnoseschema der Weltgesundheitsorganisation (WHO ICD-10) nach dem sogenannten „EKPSA-Prinzip“ folgende Bereiche bearbeitet:
- Entwicklungsstand / Intelligenz
- Körperlicher-neurologischer Bereich
- Psychischer Bereich
- Sozialer Kontakt und psychosozialer Hintergrund
- Abklärung der Ätiologie
Ein neuer Aspekt der ebenfalls von der Weltgesundheitsorganisation erarbeitet wurde, ist die Definition der internationalen Klassifikation der Fertigkeiten (WHO ICF-C4). Hier werden untersucht:
- Körperfunktionen
- Körperstrukturen
- Aktivitäten – Teilhabe
- Umweltfaktoren
Die durch diese Untersuchung erlangten Kenntnisse müssen vor Erstellung eines Behandlungsplanes in Beziehung gesetzt werden zu einer Ressourcenanalyse und zu den prognostischen Faktoren.
Die Ressourcenanalyse
Es wird eine Analyse der Ressourcen in Bezug auf Kind, Familie, Umwelt und Mitarbeit vorgenommen. Dies bedeutet, dass die gesamten Rahmenbedingungen, in denen der Patient lebt, abgeklärt werden. Dies ist insbesondere von Bedeutung, wenn Behandlungsrückschlüsse gezogen werden sollen. Es hat wenig Sinn eine Therapie zu empfehlen, deren Umsetzung an Organisationsfaktoren scheitern muss, z. B. an einem fehlenden Auto für die Fahrt zu einer Therapie im ländlichen Bereich.
Prognostische Faktoren
Jede Therapie bringt nicht nur Vorteile für den Patienten, sondern auch Belastungen. Diese „Nebenwirkungen“ müssen abgewogen werden gegenüber dem Nutzen, der aus einer Therapie zu erwarten ist. Aus diesem Grund ist vor Erstellung eines Behandlungsplanes abzuwägen, wie der Spontanverlauf der diagnostizierten Krankheit zu erwarten ist. Es gibt Entwicklungsstörungen und Erkrankungen, die eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, von selbst auszuheilen. Dies gilt insbesondere für vorübergehende Entwicklungsstörungen. Ein klassisches Beispiel ist die Aussprachestörung von Buchstaben im Vorschulalter. Der größte Teil dieser Entwicklungsabweichung normalisiert sich ohne therapeutische Maßnahme im Laufe der folgenden Monate und Jahre von selbst. Liegt aber zum Beispiel eine Entwicklungsstörung der Sprache beim Wortschatz und der Sprachbildung vor, so ist dies ein häufig zu einer langfristigen Behinderung führendes Defizit, welches einer Therapie bedarf. Die Berücksichtigung der prognostischen Faktoren ist bei der Beurteilung der Notwendigkeit einer Therapie eine wichtige Entscheidungsebene.
Der Behandlungsplan
Aus der erhobenen, biographischen Anamnese, den Kenntnissen der Vorgeschichte, der diagnostischen Definition der fünf Bereiche der EKPSA-Diagnostik, der ICF-Diagnostik und der Ressourcenanalyse ergibt sich unter Berücksichtigung der prognostischen Faktoren die Erstellung des Behandlungsplanes. Es ist Aufgabe des Sozialpädiatrischen Zentrums, diesen Behandlungsplan nach Abstimmung und Akzeptanz durch Patient und Familie umzusetzen. Dies kann in Kooperation mit niedergelassenen Ärzten und Therapeuten, anderen Institutionen oder im Sozialpädiatrischen Zentrum selbst erfolgen.
Die Therapie im SPZ
Übergeordnete Ziele der Behandlungsmaßnahme in einem Sozialpädiatrischen Zentrum sind Heilung, Linderung und Vorbeugen von Krankheiten und deren Komplikationen sowie die Verbesserung der Lebensqualität und Stärkung des Selbstwertgefühles, der Selbstbestimmung und der psychosozialen Adaptation von Kind / Jugendlichem und Familie.
Zu Beginn der Therapie steht die Aufklärung über Sinn, Zweck, Umfang und Dauer. Ein wesentlicher Aspekt ist außerdem, Grenzen und Möglichkeiten der Therapie zu übermitteln. Es ist auch notwendig, Bezugspersonen zur Mitarbeit im therapeutischen Prozess zu gewinnen. Der Therapeut muss eine geeignete Begleitung der Familie als Teil der therapeutischen Tätigkeit anbieten. Verständnis für den Entwicklungsstand und das Verhalten des Kindes zu vermitteln, ist essentieller Bestandteil der Therapie.
Die Therapieintensität (Therapieumfang) ist individuell bedingt durch:
- Stadium und Komplexität der Erkrankung
- Sensible Phasen der Entwicklung
- Bewältigungsprozesse
- Belastbarkeit (Erholung, Spiel)
- Zeitressourcen (Ganztageseinrichtung, berufliche Belastung der Eltern)
Das therapeutische Vorgehen wird durch diese Überlegungen bestimmt und kann folgendermaßen gestaltet werden:
- Einzeltherapie
- Gruppentherapie
- Kombinationstherapie
- Therapiewechsel
- Therapie durch Bezugsperson
Die Therapiedauer ist abhängig von
- Art der Störung
- Schweregrad der Erkrankung
- Therapiefortschritt
- Therapieform
- Therapieziel
- Prognose
- Motivation
Bei mangelnder Therapiemotivation oder fortgesetzter Therapieresistenz bietet sich eine Therapiepause an. Im Jahr 1989 wurde der § 119 im Sozialgesetzbuch V zu den Sozialpädiatrischen Zentren als Gesetz aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt bestanden ca. 20 Sozialpädiatrische Zentren in der kompletten damaligen Bundesrepublik Deutschland, wobei die Zahl nicht ganz genau anzugeben ist, da der Begriff „Sozialpädiatrisches Zentrum“ bis 1989 nicht juristisch verankert war. Im Jahr 2014 hat das 150. SPZ in der BRD den Betrieb neu aufgenommen. In diesen SPZ werden ca. 250.000 Patienten pro Jahr behandelt. Ca. 400 Kinder- und Jugendärzte und viele tausende andere Mitarbeiter sind in den Sozialpädiatrischen Zentren zwischenzeitlich beschäftigt.